Wie Harry Potter & Co. Kindern Ängste nehmen – dazu hat unser Glücksbotschafter Dipl. Psychologe Michael Thiel Fragen bei N-TV beantwortet. Das passt so gut zu unserem diesjährigen Schwerpunkt-Thema Lesen, denn tatsächlich können die richtigen Bücher dazu beitragen, Ängste etwas zu lindern. Das gilt übrigens nicht nur für Kinder:
„Angst im Dunkeln, vor Monstern oder um den besten Freund – das gehört zur Kindheit dazu. Aber wie viel Angst ist normal und was hilft, damit sie nicht überhandnimmt? Bücher, sagt der Kinderpsychologe Michael Thiel, und manchmal nur Therapie.
Anfang Juni kommt eine Studie der Krankenkasse DAK zu dem Schluss, Kindern und Jugendlichen drohe eine „Mental Health Pandemie“. Insbesondere Angststörungen bei Mädchen haben demnach im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit stark zugenommen.
Für Eltern ist es häufig verwirrend, Ängste ihrer Kinder einzuordnen. Sie möchten wissen, in welchem Ausmaß ängstliches Verhalten noch normal ist und vor allem wie sie helfen können. Wichtig zu wissen: Es gibt für jedes Kindesalter typische Ängste. Mit etwa zwei Jahren ist das die Angst vor Tieren und Dunkelheit, im Alter von drei bis vier Jahren die Angst vor Fantasiegestalten wie Monstern. Bei Fünfjährigen kommt die Angst, dass den Eltern etwas passiert, Neunjährige lernen dann die Angst vor dem eigenen Tod kennen.
Der Kinderpsychologe Michael Thiel betont im Gespräch mit ntv.de, dass Ängste und ihre Bewältigung generell zum Leben und zur Weiterentwicklung dazugehören. Das gelte für Kinder wie für Erwachsene. „Wenn Ängste jedoch so stark werden, dass sie den Alltag einschränken, dass Symptome wie Schlafstörungen, Bettnässen, sozialer Rückzug, Angstvermeidung auftreten und so die Lebenslust sinkt, sollten Eltern einschreiten und neben dem Gespräch mit dem Kind sich auch Rat beim Kinderarzt oder Kinder- und Jugendtherapeuten holen.“
Was können Eltern tun?
Die gute Nachricht: Angst kann sehr gut therapiert und bewältigt werden. Vor allem gilt es, die Ängste ernst zu nehmen und trotzdem nichts zu vermeiden: „Der Weg aus der Angst führt durch die Angst“, sagt Thiel. Hilfreich ist es, wenn Eltern gemeinsam mit ihrem Kind die Situation durchleben und später Stück für Stück das Kind alleine bewältigen lassen. „Jede besiegte Angst macht stark!“, so Thiel. Zusätzlich hilfreich sei es, angstbesetzte Themen durch das Kind nachspielen zu lassen, beispielsweise mit Puppen.
Als Botschafter der „Stiftung Leben“ ist Thiel außerdem überzeugt, dass passende Kinderbücher Kindern Strategien vermitteln, wie sie Ängste mutig bewältigen können. Wohltuend für gestresste Kinderseelen sei auch, dass es in den meisten Kinderbüchern Phasen der Entspannung gibt. „Das Abtauchen in eine schöne Fantasiewelt entlastet vorübergehend die Seele“, so Thiel. Denn Angst und Entspannung schließen sich aus. Deshalb sei das Lesen oder Vorlesen „wie eine Erholungsoase für ängstliche Kinder, in denen sie Kraft schöpfen können, in denen deren Stresssystem runterfährt und Psyche und Körper auftanken können“.
Welche Bücher empfiehlt der Psychologe?
Das Wichtigste sei, dass sich das Kind mit der Hauptfigur identifizieren kann, sagt Thiel. Oft geraten in Geschichten Tiere oder Kinder in eine schwierige Situation und schaffen es am Ende, als strahlende Sieger daraus hervorzugehen. Diese Figuren seien Rollenvorbilder dafür, „wie man Ängste mutig bewältigen kann oder auch, wann man sich Hilfe holen sollte“. So können Kinder im sicheren Leserahmen Gedanken gegen die Angst entwickeln. „Kinder fühlen sich nicht mehr so allein mit ihren Ängsten, weil die Figur im Buch sie ja auch hat – und überwindet. Kids lernen also Bewältigungsstrategien.“
Für die ganz Kleinen sind laut Thiel Bilderbücher wie „Pip und Posy“ das Mittel der Wahl. Der vielfach ausgezeichnete Illustrator Axel Scheffler erzählt in dieser Bilderbuch-Reihe für Kinder ab 2 Jahren Geschichten über die Freundschaft zwischen dem Hasen Pip und der Maus Posy. Der „Grüffelo“-Erfinder nimmt dabei viele Themen auf, die kleine Kinder beschäftigen und in denen sie sich wiederfinden. Die Idee zu den Figuren hatte Scheffler, als seine eigene Tochter im Kleinkind-Alter war. „Sie sollen das emotionale Drama des Alltags eines Kleinkindes darstellen“, so der Autor.
Für etwas ältere Kinder sind laut Psychologe Thiel Lesebücher wie „Angstmän“ ratsam. In dem Buch von Hartmut el Kurdi entdeckt die neunjährige Jennifer ein Häufchen Elend in ihrem Schrank, als sie alleine zu Hause ist. „Angstmän“ aus einer fernen Galaxie hat sich hier versteckt, weil er vom fiesen „Pöbelmän“ gehänselt wird. Sehr humorvoll und sprachlich aktuell erreicht das Buch Kinder und Eltern gleichermaßen.
Was Jugendliche angeht, so ist der Psychologe ein Befürworter der „Harry Potter“-Bücher. In den Bestsellern der britischen Autorin Joanne K. Rowling wird bekanntlich so ziemlich jede Angst verhandelt, die man sich nur vorstellen kann: der Tod der Eltern, dass sich geliebte Menschen als böse entpuppen könnten, dass man seine Freunde verliert, ganz abgesehen von der Angst vor Spinnen, Schlangen oder Monstern.
Manchmal hilft nur Therapie.
Wenn der Alltag des Kindes stark eingeschränkt ist und Symptome wie Schlafstörungen, Bettnässen oder häufige Bauchschmerzen auftreten, sollten Eltern einschreiten, sagt Thiel. Auch wenn das Kind nicht mehr in die Schule gehen will, kann das ein Hinweis darauf sein, dass etwas nicht stimmt. Eine erste Anlaufstelle sei zunächst der Kinderarzt, der einschätzen kann, ob die Ängste noch im normalen Rahmen liegen oder eine Angststörung vorliegt, die beim Kinder- und Jugendpsychologen behandelt werden kann.
Meist werden dann im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie die Ängste genauer identifiziert und ein systematisches Programm gegen die Angst aufgestellt. Dazu gehören auch das Einüben von Entspannungstechniken und die Einbeziehung der Eltern. „Schließlich wird das Kind mit therapeutischer Hilfe stufenweise die angstauslösenden Situationen aufsuchen und so lange aushalten, bis die Angst weniger wird“, beschreibt Thiel den Prozess.
Generell, betont der Kinderpsychologe, sollten Eltern Kinder alles, was sie im ungefährlichen Rahmen allein tun können, auch allein machen lassen und nur dann eingreifen, wenn es wirklich nötig ist. Auch besondere Begabungen beim Kind zu entdecken und zu fördern helfe, ebenso wie in der Familie immer wieder zusammen neue Dinge auszuprobieren und so die Lust auf Neues zu wecken. All das stärke die Selbstwirksamkeit von Kindern „und erhöht damit ihr Selbstwertgefühl“.“
Quelle: ntv.de