Das Kind in uns – das klingt wie eine Gelegenheitsfloskel zur Beschreibung einer bestimmten Situation. Erinnerungen: wir finden uns wieder im Spiel, erinnern uns an Vergangenes, nehmen Geschmack und Geruch, Bilder und Klänge von früher auf. Doch das Kind in uns meint viel mehr. Es ist die andauernde Präsenz der Kindheit in allem was wir tun, denken, fühlen. Das Kind in uns ist von einer so gewaltigen Präsenz, dass man nur staunen kann, wie wenig es heute bei der Betrachtung unserer Welt Berücksichtigung findet.
Schauen wir allein auf die großen Akteure unserer Zeit – die Figuren der Zeitgeschichte. Putins Kindheit: autoritärer Vater, ängstliche Mutter. Eine rauhe Schulzeit, Schlägereien, Putin war ein unkontrollierter Charakter, desorganisiert, ein Raufbold. Sein Jugendfreund Viktor Borisenko beschreibt ihn: Wladimir biss, kratzte, riss anderen büschelweise die Haare aus, bis alle vor ihm Angst hatten.
Sprung nach Amerika, wo Donald Trump auf seine erneuten Wahl zum Präsidenten des immer noch mächtigsten Landes der Erde zusteuert. Sein Vater: ein autoritärer Typ, den Psychologen in Analysen als Soziopathen beschreiben: Rücksichtslos, ohne Empathie. Donald Trump fiel bereits im Vorschulalter durch seine Aggressivität gegenüber anderen Kindern auf, seine Eltern sahen die Lösung schließlich darin, den Sohn auf eine strenge Militärakademie zu schicken. Trump schaut uns an als das Kind, das in ihm steckt. Die Geschichte ist voll von solchen Beispielen.
Hitler, Stalin, Mao. Adolf, das Kind des prügelnden Zollbeamten Alois Schicklgruber, eine cholerische, gewalttätige Vaterfigur und wieder ganz anders die Mutter: liebevoll, weich. Josef Stalin: Prügel vom alkoholkranken Vater, Schläge auch von der erbarmungslosen Mutter. Besuch eines berüchtigten Orthodoxen Priesterseminars. Dann die frühe Karriere eines Bandenkriminellen bis zum Bankräuber.
Mao Tse Dong: er hasste seinen prügelnden Vater, einen materialistischen Aufsteiger. Er verbitterte, kapselte sich ein, auch die gütige Mutter, eine fromme Buddhistin, konnte daran nichts ändern. Mao blieb der, zu dem er als Kind wurde. Ein rücksichtsloser Egoist, wenig Mitgefühl für andere, auf dem Weg zum Ziel zu allem bereit, mindestens 30 Millionen Tote gehen auf das Konto seiner Herrschaft.
Das Kind in uns wirkt ein Leben lang, und wir vergessen das, viel zu oft. Anders dagegen die Kulturen und ihre Menschen vor unserer Zeit: Schauen wir auf das aktuelle Programm des Hamburger Schauspielhauses, wo Roland Schimmelpfennigs atemberaubender Theben-Zyklus für Furore sorgt: Anthropolis. Im Mittelpunkt der 5 Bearbeitungen antiker Mythenstoffe: Antigone und Ödipus. Antigone begräbt ihren Bruder, dem sie seit Kindheit verbunden ist. Sie begräbt ihren Bruder Polinaikos, obwohl der Herrscher Kreon solches aus Hass und Rachsucht streng verboten hatte. Doch die Bande der Kindheit und das göttliche Gesetz: Antigone begräbt aus Geschwisterliebe und im Dienst an den Göttern den Bruder um den Preis des eigenen Lebens. Ödipus: Als Säugling zum Tode verdammt, damit er seinem Vater nicht gefährlich wurde, überlebte er doch dank eines Hirten, der sich des Knaben erbarmte und den Säugling in Obhut gab, von wo er später den Weg zu einem Königshof fand. Doch Ödipus konnte seinem Schicksal nicht entrinnen. Erst tötete er seinen Vater, dann heiratete er die eigene Mutter. Nichts ahnend, unwissend, und doch unschuldig-schuldhaft verstrickt.
Das Kind in uns wirkt nach, und wir können fast nichts dazu. Die Menschen vor unserer Zeit wussten das. In ihren Leben verband sich wirkmächtig und unauflösbar die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Im Schauspielhaus spielt die famose Lina Beckmann Shakespeares Richard III, sie spielt es in Karin Beyers Inszenierung als Drama einer unglücklichen Kindheit, Richard the Kid & The King. Der verlachte, unansehnlich-Krüppelige wird König. Die Ankunft Richards III. auf der Welt war schon überschattet von merkwürdigen Vorzeichen. Wäre es vielleicht besser gewesen, dieses Kind wäre nie geboren? Richards Mutter, die Herzogin von York, findet keinen Zugang zum schrecklichen Kind, das doch ihr Kind ist. Später im Kampf um die Krone: kaltblütig, brutal – und erfolgreich. Machtgier, Skrupellosigkeit und Zerstörungswut – Ergebnis einer zerstörten Kindheit? Regisseurin Karin Bayer scheint davon überzeugt.
Vom Schauspielhaus gehen wir zum Glockengießerwall, wo in der Hamburger Kunsthalle die grandiose Caspar-David Friedrich Ausstellung das Publikum begeistert. Ein Romantiker, zu Beginn seiner Karriere ein Star, zum Ende seines Lebens nahezu vergessen, Anfang des 20. Jahrhunderts spektakulär wiederentdeckt. Mit dem Zeitalter der Psychologie, der Erfindung der Seele, des ES, gerieten auch die rätselhaften Werke des Greifswalders wieder in den Blickpunkt, wurden von romantischen Weltbetrachtungen zu offenen Prophezeiungen der Moderne. Ihre Rätselhaftigkeit, ihr fortdauerndes Geheimnis fesselt uns und fordert uns heraus. Eines seiner berühmtesten Werke: Das Eismeer, stolzer Besitz der Hamburger Kunsthalle, reich an Bezügen, offen in der Auslegung. Am Ende gar eine ahnungsvoll-dramatische Vorausschau auf die Klimakatastrophe, wie tatsächlich ein Exeget sich etwas sehr Greta-mäßig vorwagte? Eher nicht. Tatsache ist, dass sich forschungsgeschichtlich aus der Zeit belastbare Interpretationen ableiten lassen. Polar-Expeditionen und Schiffsunglücke waren große Dramen dieser Epoche. Aber ganz sicher ist dieses biografische Ereignis: Caspar Davids jüngerer Bruder Christoffer ertrank, als er bei einer Bootstour dem Älteren das Leben rettete. Doch es war kein Unfall auf brüchigem Eis, das belegen die genauen Temperaturaufzeichnungen des Todesdatums. Trotzdem scheint die Deutung plausibel, dass bei diesem Bild und anderen seines OEuvres das Friedrichsche Kindheitstrauma des Brudertods die emotionale Folie bildet, den melancholischen Grundton einer Malerei, wo Tod und Vergänglichkeit immer präsent scheinen. Die Abbildungsraum ist die Landschaft aus Himmel, berstendem Eis und Schiffswrack, der Wahrnehmungsraum ist das Bild ohne die für Friedrich typische Rückenfigur und wir als informierte Betrachter davor, der multidimensionale Deutungsraum ist alles zusammen. Wir spüren, dass hier mehr im Spiel ist als der sichtbare Bildbestand. Wir ahnen einen Bedeutungsüberschuss mit tiefer liegender, psychologischer Dimension: das furchtbare Kindheitstrauma Friedrichs. Das Kind in uns nicht als Episode, sondern als dauerhaft wirkmächtige Kraft.
Am Glacis entlang spazieren wir zur Staatsoper, gleichzeitig John Neumeiers Tanzolymp. Ein Blick auf die großen Handlungsballette Tschaikowskys zeigt: Dem Nussknacker, Dornröschen und Schwanensee liegen Erzählstoffe zu Grunde, die sich mit Bildern von Kindheit beschäftigen, den Metamorphosen der Adoleszenz, juvenilen Traum-Imaginationen zwischen Wirklichkeit und Phantasie.
Die Maler Degas und Balthus haben später diesen pubertären Schwebezustand zum Bildthema gemacht, im Ballett ermöglicht der Tanz den Ausdruck dieser Entwicklungsstadien und Gefühlswelten, die sich anscheinend nur so künstlerisch artikulieren und erfahrbar machen lassen. Wir erkennen uns wieder: Entwicklungen, die in der Kindheit durchlaufen werden und als Grunderfahrungen bleiben und fortwirken. Wir sind, was wir geworden sind, was wir werden mussten aufgrund der umgebenden Konstellationen.
Schauen wir am Thalia Theater vorbei, wo gerade die Lessing-Tage stattfanden. Der Aufklärer Lessing, der mit seinem Nathan der Erziehung ein Denkmal setzte, ein Denkmal der Erziehung zum Guten, einer Kindheit als Menschwerdung im Sinne der Aufklärung. Luisa Neubauer hat in diesem Jahr mit einer beeindruckenden Rede die Lessingtage eröffnet. Von ihr wissen wir: es waren Großmutter und Mutter, die als aktivistische Vorbilder den Grundstein legten für den Weg, den die junge Frau in ihrem Engagement gegangen ist, ganz egal, wie wir ihre Ziele und Aktionen bewerten wollen.
Über die Mönckebergstraße finden wir den Weg zwischen St. Petri und Jacobi zum Speersort und Domplatz, überqueren den Ring am alten Spiegel-Hochhaus vorbei und landen etwas später vor St. Katharinen, auf 11.000 Lärchenpfählen errichtet, die Kirche des Hafenquartiers, und damit auch die Kirche der Elbphilharmonie, die sich nach Westen gegen den nahen Horizont abhebt. Die Heinrich Heine-Tage wurden gerade von Jens Harzer mit einer musikalischen Lesung von Heines Ideen-Buch Le Grand eröffnet, es sang zur Schlagzeug-Begleitung der Tenor Benjamin Appel. Im Ideen-Buch Le Grand beschreibt Heine, wir er am 3.1.1811, 2 Jahre vor der Völkerschlacht bei Leipzig, als Kind den Kaiser Napoleon erlebte, die Hofgarten-Allee auf einem prächtigen Schimmel entlang reitend, die Zügel locker in der rechten Hand, mit der linken streichelte er immer wieder den Hals seines Pferdes. Bei den Honoratioren der Stadt keine Spur von Widerständigkeit gegen den französischen Usurpator. Im Gegenteil: Feingemacht und allzu bereitwillig ergab man sich als Untertanen dem Glanz des Eroberers, auf dass auch ein wenig davon abstrahlen möge auf sie selbst und ihre Alltäglichkeit. Und das Volk rief tausendstimmig: Es lebe der Kaiser. Das nahm der 14-jährige Heine mit ins Leben, er erlebte Napoleons Untergang, die traurige Restauration mit der Aufgabe bürgerlicher Freiheiten, Polizeistaat, Verfolgung, ein Klima der Angst. Der große Heinrich Heine – er war ein Kind, als das Napoleon-Erlebnis ihn zum Dichter der Freiheit werden ließ.
Besteigen wir schließlich vor der Elbphilharmonie eine Barkasse, die uns elbaufwärts nach Harburg schippert. Nicht nur Menschen haben eine Kindheit, auch Städte, Länder, das Universum, wie wir wissen. Eine Wiege Hamburgs steht auch in Harburg. Der historische Gewölbekeller des Schlosses von 1440 ist der älteste ursprüngliche Raum Hamburgs. Hier soll Stadtgeschichte in Zukunft ihre museale Heimat finden. Hamburgs Kinderstube in Harburg, ein lebendiger Ort, der in die Gegenwart hineinwirkt. Wir sind, was wir geworden sind. Als Stadt, als Menschen. Das Kind ist in jedem von uns – und es lebt.